Nicht auf der Spur, aber spüren Gerade lese ich das Büchlein „Unverfügbarkeit“ des Soziologen Hartmut Rosa, auf 130 Seiten quasi ein Nachwort zu seinem faszinierenden Wälzer „Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung“, durch den ich mich im Frühsommer vorigen Jahres teilweise fast atemlos durchgearbeitet habe. Mein Bleistift der Härte B von Faber-Castell (mit Radiergummi, beide von fantastischer Qualität) ist dabei ein ordentliches Stück kleiner geworden.
„Unverfügbarkeit“ fasst als Begriff und Stichwort einen Kosmos von Beobachtungen und Gedanken zusammen, der sich mit einiger Wirkung unter anderem auch auf die Kunst und die Religion anwenden lässt. Beides ist mir ein Herzensangelegenheit, und ich freue mich darüber, dass mir die Soziologie hier ein Instrumentarium zur Verfügung tellt, mit dem ich eine Außensicht formulieren kann, die vorsichtige, schmale Wege zu einer Innensicht ermöglichen könnte.
Rosas Grundthese lautet, dass die Welt dann als sinnhaft, lebbar und nutzbar erfahren wird, wenn alle Aspekte in ihr die einzelnen Menschen – philosophisch: die Subjekte – „anrufen“, also einen „Eigensinn“, eine Dynamik haben können, die die Menschen existenziell anspricht. Die Menschen setzen sich leiblich und geistig zu den „Objekten“ (dazu gehören natürlich auch lebende Wesen) der Welt in Beziehung, ihr eigener Antrieb eröffnet die Möglichkeit einer Antwort der Objekte, auf die die Menschen dann wieder reagieren – kurz: das, was Rosa als „Resonanz“ beschreibt. Dazu gehört aber auch, dass die Objekte sich entziehen können, dass sie nicht einfach greifbar und verfügbar sind, wann immer den Subjekten danach ist. Dynamisch, lebendig, sinnhaltig wird Leben dann, wenn Menschen immer wieder neu die Selbstwirksamkeitsarbeit des „In-Resonanz-Tretens“ auf sich nehmen und diese intrasubjektiv in die „Anverwandlung“ der Welt mündet. „Anverwandlung“ heißt bei Rosa, dass die Begegnung mit einem Objekt, die mich berührt, affiziert, bei mir eine Emotion, eine Bewegung heraus aus mir und hin zum Objekt/Lebewesen bewirkt, die sich als Resonanz beschreiben lässt, welche mein Verhältnis zur Welt (und damit mich selbst) verändert (transformiert).
Damit verbunden ist auf der anderen Seite die Erfahrung, dass die Welt stumm wird, wenn alles in ihr verfügbar, greifbar, nutzbar ist, ohne dass diese nicht planbare, herstellbare „Anverwandlung“ geschieht. Wenn das Objekt jederzeit genutzt werden kann, um etwa eine Emotion hervorzurufen, dann schwindet die Emotion und das Objekt wird „stumm“. Ebenso gilt das für Beziehungen, wenn die jeweiligen Partner:innen zu verfügbaren Objekten degradiert werden und das Wissen schwindet, dass Menschen nur sich selbst gehören, keinem anderen Menschen.
Diese Erfahrung der Stummheit steht in einem Widerspruch zum Bedürfnis der Subjekte, ihre „Weltreichweite“ zu vergrößern, sich Welt „anzueignen“. Unter den ökonomischen Bedingungen (erstaunlich: ich vertippte mich und schrieb „Bedüngungen“) des Kapitalismus nimmt die Verfügbarmachung der Welt zu, aber damit auch ihre Stummheit. Mit existenziellen Folgen.
Das ist die fragile, aber faszinierende Spur, auf die Rosa seine Leser:innen setzt: Wie geht die Balance zwischen der „Zuhandenheit“ der Objekte und der Bewahrung ihrer Unverfügbarkeit?
Diese Frage lenkt den Blick zugleich auf die Kunst und die Mystik.
Kunst bewegt sich auf der Grenze zwischen Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit. Sie entsteht aus einem Antrieb, die Resonanz auf die Welt zu formulieren, zu „beschreiben“ („bemalen“, „beformen“, „betanzen“, „betönen“), ohne sie auszuloten und damit zum Ding zu machen. Kunst, das habe ich in einem anderen Text beschrieben, braucht den an sich unverfügbaren Raum der Muße, um entstehen zu können. Deshalb reibt sie sich an ihrer Verfügbarmachung über das Mittel des Geldwertes.
Dennoch kann die Kunst, wenn sie nicht Emotionen reproduzieren, sondern Resonanzen produzieren will, dies bei ihren „Besitzern“ erreichen. Ich bin in meinem Zuhause umgeben von Bildern, die ich biografisch konnotieren kann, die als Erbstücke zu mir gekommen sind, deren Schöpfer:innen ich kannte/kenne, weil ich das Kunstwerk nach sorgsamer Überlegung von ihnen erworben habe. Aber ich „habe“ diese Bilder nicht, sie entziehen sich meiner Verfügung. Mal bleiben sie stumm, wenn ich sie anschaue, mal entdecke ich – warum auch immer – beim flüchtigen Blick etwas, das mich neu in seinen Bann zieht, fasziniert (also fesselt, ohne meine Bewegungsfähigkeit einzuschränken). Ist das Bild dagegen eine Kapitalanlage, das ich mir im Hinblick darauf anschaue, dass sich sein Wert durch die steigende Bekanntheit oder gar den Tod seiner Schöpferin/seines Schöpfers in den kommenden Jahren vervielfachen wird, dann bleibt es stumm.
Ähnlich ist das bei der Mystik. Die beginnt nicht in der spirituell streng geübten Selbstversenkung, Meditation oder Gebetshaltung, sondern im Alltag. Da, wo mich etwas unverhofft, unerwartet, ungewollt und unverfügbar anspricht – und zwar so, dass ich darauf reagieren muss, weil es mich an einem Punkt meiner Seele erreicht, den ich nicht in die Regale des Alltags einordnen kann. Dieses unverfügbare „Etwas“, das unhinterfragbar über sich und mich hinausweist und mit Evidenz auf eine vorhandene, nicht verfügbare, tief sinnhaltige Dimension hinweist, ist der Ausgangs- und Ankerpunkt all dessen, was in Religionen ausformuliert, verstehbar gemacht werden soll – so groß ist die irritierende Affizierung, zuweilen Ängstigung, aber auch mögliche Beglückung dessen, was mich da erreichen kann.
In diesem Sinn möchte ich gern einen Aspekt der Theologie der Ikonen in der Orthodoxie aufgreifen: Ikonen sind in der orthodoxen Glaubensüberzeugung „Fenster zum Himmel“: Sie zeigen symbolisch das an sich Unzeigbare, machen es erfahrbar, aber halten es zugleich auf der Distanz, die die Betenden auffordert, sich ansprechen zu lassen – diese Form der „aktiven Passivität“, die es darauf anlegt, es nicht mehr darauf anzulegen, ist notwendiger Bestandteil der Meditation wie des Betens. Sobald ich allerdings den Gehalt dieses Unverfügbaren zu haben glaube, entferne ich mich vom Erfahrungsraum des Größeren, mache ihn stumm. Dann thront die Buddha-artige Plastikfigur für 79,98 Euro im Garten oder verstaubt im Regal, Kreuze baumeln beziehungslos an fitnessbraunen Hälsen, und hilflose Suchende hüpfen ums Feuer einer Sonnenwende und merken nicht, wie neubraune Ideologen sich ihretwegen die Hände reiben.
Auch künstlerische Ausdrucksweisen können Fenster zum „Anderen“, zum Größeren sein. Dann werden die Künstler:innen zu „Ikonenschreibern“, und die unauslotbare Welt wird zur Ikone, die etwas viel Größeres symbolisiert. Das gilt übrigens auch dann, wenn Kunst ganz politisch, ganz brutal, ganz unästhetisch wird. Sie tut es, weil es notwendig ist, weil sonst die Seelen der Menschen nicht (mehr) erreichbar wären.
Arbeiten sie so, dann sind Künstler:innen – aber etwa auch Soziologen wie Hartmut Rosa, wortkarge, herzlich schweigsame Meditationslehrer oder geistliche Begleiter – echte „See(len)notretter“: Sie kämpfen dafür, dass die Seelen lebendig bleiben können und in der stummer, weil verfügbar und verkaufbar werdenden Welt Türen öffnen in einen unverfügbaren, lebendigen Zeit-Raum. Es wäre fatal, kämen Kunst und Mystik von diesem Weg des geringen, aber dauernden Widerstandes ab.