Arbeit in Muße

Die Tür zum Atelier zu öffnen ist immer ein ganz besonderer Vorgang. Ich betrete einen fremden Raum. Äußerlich ist er mir gut vertraut. Ich kenne und schätze seine Ausmaße, seine Aufteilung, mag seine Atmosphäre und den Lichteinfall ohne direkte Sonne: gleichbleibendes Licht für den ganzen Tag. Innerlich aber öffne ich stets die Tür in eine neue Dimension. Ich weiß nicht, was mich erwartet, wenn ich ins Atelier komme. Oft habe ich mir ein Ziel gesetzt, die Aufgabe ist formuliert, ich bin „eingenordet“ wie das Licht, das durch die Fenster kommt.

Aber im Atelier wird dieser Vorsatz zum Handlungsimpuls. Und der hat es in sich. Denn ich bin ihm ausgeliefert. Will ich zu viel, dann verliert er sich. Bin ich unentschlossen oder zögerlich, dann zieht er sich ebenfalls zurück. Nur wenn ich in gelassener Aufmerksamkeit, neugierig, aber ohne Erwartung, ans Werk gehe (in der zweifachen Bedeutung des Wortes), dann habe ich die Chance, mit der Arbeit weiter zu kommen.

Dieser Handlungsimpuls, das weiß ich mittlerweile, entsteht in jenem Seelenraum, in dem die Zwecke nicht festgelegt und die Mittel unerheblich sind: im Raum der Muße. Was genau sie ist – ob Zustand, Einstellung, Haltung oder Nichthandeln –, weiß ich nicht. Vielleicht ist sie all dies. Eines jedoch ist sicher: Sie fordert Aufmerksamkeit ohne Anstrengung. In der Muße arbeiten mein Kopf und meine Sinne intensiv, aber sie entsprechen nicht der Betriebsamkeit, dem „Fleiß“, den die Römer „industria“ nannten. Ich kann nicht auf die Suche nach dem richtigen Ausdruck für das gehen, was ausgedrückt werden will, wenn ich meine, ich müsste etwas produzieren. Ich kann erst arbeiten, wenn ich nicht mehr „arbeiten“ muss (hier hat sie etwas von der Meditation). Künstlerisches Tun und die Produktion des Künstlers sind deshalb eben nur begrenzt aufeinander bezogen. „Produktion“ hieße letztlich in diesem Zusammenhang, vom Ergebnis des eigenen Tuns getrennt zu sein, dem eigenen Handeln fremd zu werden.

Kunst und Entfremdung aber schließen sich aus. Denn Kunst hat keinen Nutzen. Sie kann zwar einen Wert bekommen, aber dann wird sie schon zum Problemfall. Denn sie entsteht in der Regel (und für die meisten künstlerisch tätigen Menschen) nicht aus einem vertraglichen Arbeitsverhältnis und mündet nicht in einem Produkt als der Summe von Material, Energieaufwand (Arbeit) und verwendeter (Lebens-)Zeit, für das ein abstrakter Geldwert angesetzt wird. Am Anfang der Kunst steht nicht die Entfremdung des Subjekts von sich selbst, sondern jener „Raum“, in dem das Subjekt gerade sich selbst gehört: der Raum der Unverzwecktheit, der Muße, der schöpferisch unruhigen Ruhe.

Damit schwingt für mich in ihr etwas vom siebten Tag der Schöpfung. Nach biblischer Tradition ruht da Gott und betrachtet sein Werk. Er ist eindeutig im Zustand der Muße: aufmerksam, in ruhiger, bewegter Rechenschaft gegenüber dem Geschaffenen. In der Muße klingt – traditionell gesprochen und mir immer noch lebenswichtig – die schöpferische Präsenz Gottes nach. Sie wird zur Ruhe durch sein schöpferisches Handeln zuvor, in dem er ein Ziel verwirklicht. Nicht weil er muss, sondern weil er will. Sein Ziel: Das Nichtsein zum guten Sein zu machen. Die Muße kommt dem Schöpfungswillen
Gottes am nächsten, der keinen „Nutzen“ hat. Das könnte einen hauchdünnen Analogie-Faden in jenen Raum spinnen, in dem Kunst entsteht. Aber wenn sie entsteht, existiert Kunst nicht um ihrer selbst willen, sie ist kein Selbstzweck. Das ist als dauernde Mahnung nicht wegzudiskutieren – spätestens seit Walter Benjamins immer noch nachdenkenswertem Aufsatz über „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“. Der Kölner Bildhauer Herbert Kreutzer, von dem ich als Gymnasialschüler dankenswert viel gelernt habe, definierte Kunst knapp als „Lebensäußerung des Menschen für den Menschen“. Darüber kann man lange diskutieren und den Satz für viel zu formal halten. Wichtig ist aber die soziale Kopplung: Wenn Kunst, dann soll (und im besten Fall: wird) sie für andere zum Resonanzraum werden. Kunstschaffen und Rezeption sind aufeinander bezogen – beide erteilen
einer Kunst, die sich selbst genügt, eine Absage. Kunst als Selbstzweck würde sie langweilig machen, würde vielleicht sogar Fragen an ihre Existenz stellen, weil sie verantwortungslos würde. Es geht immer um Menschliches in der Kunst, um subjektive Erlebnisse, Erfahrungen, Irritationen des
Denkens und Anfragen, es geht um das Erschrecken vor Abgründen und das Verstummen vor Unaussprechlichem, aber Darstellbarem, das mitgeteilt werden will und muss. Deshalb ist Kunst auch nicht unpolitisch. Sie traut sich, aufmerksam zu machen, zu kritisieren, zu sensibilisieren – und das
mit den dehnbaren, strapazierbaren Mitteln der Ästhetik. Wie nun diese definiert wird, ist ein anderes Kapitel. Mal schauen, ob ich mich irgendwann mal daran wage.